"Jeder zweite Mord bleibt unentdeckt" - Rechtsmediziner: Leichenschau oft zu oberflächlich

Hannover (dpa/ap). In Deutschland bleibt nach Experten-Ansicht jeder zweite Mord unentdeckt. Bei der Leichenschau würden jedes Jahr zwischen 1200 und 2400 gewaltsame Todesfälle übersehen, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, Professor Bernd Brinkmann. Außerdem blieben die rechtlichen Regeln weit hinter den technischen Möglichkeiten des Gentests zurück.

Die Leichenschau sollte nicht von dem behandelnden Hausarzt, sondern von einem unabhängigen Mediziner vorgenommen werden, sagte Brinkmann auf der Jahrestagung des Verbandes in Hannover. Dies könnte ein Amtsarzt sein. Das rechtsmedizinische Institut der Universität in Münster hat Protokolle der gesetzlich vorgeschriebenen zweiten Leichenschau vor der Verbrennung der Toten ausgewertet. In vielen Fällen, berichtete Brinkmann, seien selbst offensichtliche Einwirkungen von wie Messerstiche oder stumpfe Gewalteinwirkungen, als natürliche Todesursache diagnostiziert worden..

Brinkmann kritisierte zudem die niedrige Rate der Oduktionen in Deutschland. So würden nur acht von 100 Leichen zur Ermittlung der Todesursache obduziert. In England liege die Quote bei rund 25 Prozent. "Deshalb haben wir auch eine der höchsten Exhumierungsraten der Welt", sagte Brinkmann. Allein in Münster müßten jährlich bis zu 15 Leichen wieder ausgegraben werden, damit nachträglich die Todesursache untersucht werden kann. In Bayern liegt diese Rate deutlich niedriger, weil dort vor der Bestattung mehr untersucht wird.

Der Gerichtsmediziner kritisierte außerdem den Aufbau der Datenbank für die genetischen Fingerabdrücke von Straftätern in Deutschland als nicht optimal. Die für die Speicherung der Daten genutzte Technik sei vor sechs Jahren Stand der Forschungen gewesen, sagte Brinkmann. Inzwischen sei die Technologie aber deutlich leistungsfähiger. Die Verpflichtung, Speichelproben nach der Untersuchung zu vernichten, sei unverständlich. Eine Nachuntersuchung mit besserer Technologie sei dann nicht mehr so einfach möglich. Nach den Worten Brinkmanns werden in Großbritannien und in den USA - dort gibt es schon längere Zeit derartige Datenbanken - auch die Proben aufgehoben und können später weiter untersucht werden. Ein Viertel der aus Körperzellen gewonnenen genetischen Fingerabdrücke konnten bisher nicht identifiziert werden. Die Rechtsmediziner wollen in Zukunft auf 99,9 Prozent kommen.

Die Gen-Datenbank wurde nach einer Reihe spektakulärer Mordfälle an Kindern vor einigen Monaten eingeführt. Sie wird beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden verwaltet. Um die Einrichtung hatte es politischen Streit gegeben. Künftig werde es auch möglich sein, anhand des vorn mutmaßlichen Täter zurückgelassenen genetischen Fingerabdrucks auf die ethnische Zugehörigkeit, die Augen- und Haarfarbe zu ermitteln, sagte Brinkmann. "Hier stehen wir kurz vor dem Durchbruch." Gesetzlich sei es aber den Rechtsmedizinern nur erlaubt, einen am Tatort gefundenen genetischen Fingerabdruck mit dem eines Verdächtigen zu vergleichen. "Technisch ist es einfach, aus einem vollen Aschenbecher in einem Auto mit dem Gentest zu ermitteln, wie viele Menschen darin gesessen haben. Nur gesetzlich ist es verboten", sagte Brinkmann.

(Quelle: Weser-Kurier, 18.9.1998)